St.Galler Tagblatt

Seismik des Lesens

Der frühere Leiter der Schule für Gestaltung, Felix Ebneter, zeigt in seiner eben eröffneten Galerie FEe eigene Bilder unter dem Titel «Interpretationen».

Von Christina Genova

Was hält die Welt im Innersten zusammen? Woher wissen wir, dass sich die Erde um die Sonne dreht und nicht umgekehrt? Felix Ebneter, der Gestalter, der visuelle Mensch und Ästhet, beschäftigt sich mit Vorliebe mit Erkenntnistheorien und Naturwissenschaften, mit Autoren wie Fred Alan Wolf, Ken Wilber oder Werner Heisenberg. Vielleicht als Ausgleich zu seinem auf den schönen Schein fokussierten Beruf zieht er sich gerne zur vertieften Lektüre zurück in sein Appenzellerhäuschen. Während des Lesens hat er die Angewohnheit, besonders bemerkenswerte Passagen mit Bleistift am Buchrand zu markieren. Diese seismischen Ausschläge, Ausdruck seiner inneren Bewegtheit bei der Lektüre, entstehen durch spontane Bewegungen aus dem Handgelenk heraus.

Corporate Design und Kunst
Felix Ebneter begann, diesen Wegmarken seiner Leseerfahrungen eine eigene Schönheit abzugewinnen. Er, der sich als Gestalter im weitesten Sinne, nicht aber als Künstler versteht, vergrösserte die feinen Bleistiftzeichen in mühseliger, stundenlanger Arbeit am Computer auf das Format A1 und A0 und fügte die entsprechenden Zitate hinzu. Sie stammen alle aus dem Buch «Einstein trifft Picasso und geht mit ihm ins Kino» des Wissenschaftshistorikers Ernst Peter Fischer. Darin untersucht der Autor Parallelen zwischen Kunst und Physik.

Für die Darstellung der Textausschnitte verwendete Felix Ebneter weitgehend selbstentworfene Schriften. Zum einen ist es eine Neuzeichnung der klassischen Times-Schrift, die er «Draft Roman» nennt. Sogar Adrian Frutiger, der berühmte Schweizer Schriftgestalter und Erfinder der Frutiger-Schrift, fand daran Gefallen, als Felix Ebneter ihn vor einiger Zeit besuchte. Felix Ebneter nennt die wahlweise auf Folie oder Plexiglas gedruckten Textinszenierungen «Interpretationen». Er zeigt sie in seinem eigenen Ausstellungsraum, den er im Erdgeschoss seines Ateliers für Corporate Design und visuelle Kommunikation eingerichtet hat. Aber darf man so weit gehen, diese, wie der Gestalter selbst sagt, «völlig absichtslos» entstandenen Markierungen als Interpretationen zu bezeichnen? In der Vergrösserung präsentieren sich die Randzeichen schwungvoll und energiegeladen. Sie wecken unterschiedliche Assoziationen, manche ähneln arabischer Kalligraphie, in anderen glaubt man einen Engel oder eine Tänzerin zu erkennen. «Eigentlich ist es die Umkehrung der Fussnote», meint Ebneter. Die Inszenierung der Zeichen rückt das Zitat als auslösender Moment in den Hintergrund.

Erkenntnisse beim Lesen
Aber führt dies nicht dazu, diesen Randzeichen allzu grosse Bedeutung beizumessen? Was genau gewinnt man durch deren Vergrösserung? Auf jeden Fall wünschte man sich mehr Wechselwirkung zwischen Zeichen und Text, idealerweise deren Verbindung zum Gesamtkunstwerk, wenigstens aber, dass die Inszenierung einem den Zugang zu den nicht immer einfach verständlichen Zitaten erleichtert.

Textinszenierungen machen im besten Falle Lust darauf, sich auf neue Leseabenteuer einzulassen, lesend abzutauchen und sich wider den Zeitgeist auch mal länger als zwanzig Minuten in eine Lektüre zu vertiefen. Felix Ebneters typographische Tafeln hingegen wirken mehr wie eine Spielerei, einen Tick zu versponnen. Was passiert eigentlich mit uns, wenn wir uns lesend verstanden wissen, wenn uns bei der Lektüre ein Licht aufgeht oder sich uns beim Lesen neue Horizonte eröffnen? Solche Fragen klingen bei Felix Ebneter zwar an, aber Antworten darauf bleiben aus.

Erschienen im St. Galler Tagblatt vom 6.7.2011