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Neue Gärten braucht die Stadt

Seit einigen Jahren entstehen in vielen grösseren Städten neue Gärten. Dort pflanzen nicht etwa pensionierte Gartenzwergliebhaber ihr Gemüse an, sondern junge Leute, die gemeinsam mitten in der Stadt ihre urbanen Gartenträume verwirklichen. Auch in St.Gallen scheint die «Urban Gardening» Bewegung erste Wurzeln zu schlagen.

Von Christina Genova

«Möchtest du auch gerne wissen, woher dein Rüebli kommt?» Immer mehr Städter bejahen diese Frage. Die Gretchenfrage stellte Anfang Mai auch die Grüne Partei der Stadt St.Gallen und lud damit zu einem Infoanlass über Vertragslandwirtschaft ein. Dabei geht es darum, mit Bauern aus dem städtischen Umland Abnahmeverträge abzuschliessen, damit diese zu fairen Preisen und einem garantierten Absatz kommen – und die Konsumenten regelmässig zu frischem Gemüse aus der Region. Wer aber nicht nur die Herkunft von seinem Rüebli wissen will, sondern ihm sogar beim Wachsen zuschauen möchte, der muss zu Spaten und Hacke greifen. Und auch dazu sind immer mehr Städter bereit. Es grünt und blüht in den Städten. Balkonkistchen werden nicht mehr mit Geranien, sondern mit Tomaten bepflanzt. Man will nicht nur vorgefertigte Nahrungsmittel kaufen, die von weit her eingeflogen worden sind, sondern etwas mit den eigenen Händen kreieren. Seit wenigen Jahren entstehen in zahlreichen westlichen Grosstädten neue Formen von Gärten. Die «Urban Gardening» Bewegung steht für eine neue Lust am Gärtnern und Selbermachen. Auf städtischen Brachen und in vernachlässigten Quartieren werden Blumen und Gemüse angepflanzt und damit neue Orte der Begegnung geschaffen. Aus den USA kommend erreicht das Urban Gardening über Deutschland langsam aber sicher auch die Schweiz. Vorreiterin ist die Stadt Basel, wo der vor gut einem Jahr gegründete Verein Urban AgriCulture Netz getreu der Devise «local food for local people» bereits zahlreiche Projekte, wie die Bepflanzung von ausrangierten Einkaufswägen mit Gemüsesetzlingen und die Haltung von Bienenvölkern mitten in der Stadt, realisiert hat. Die deutsche Soziologin Christa Müller, die den Trend des urbanen Gärtnerns schon seit über 15 Jahren erforscht und Mitte Mai für einen Vortrag in St.Gallen war, vertritt in ihrem kürzlich erschienenen Buch «Urban Gardening: Über die Rückkehr der Gärten in die Stadt» die These, dass in westlichen Grossstädten ein neues Verständnis von Urbanität entstehe und dabei die neuen urbanen Gärten eine wichtige Rolle spielen. Als Folge davon würden sich nämlich die Grenzen zwischen Stadt und Land zunehmend verwischen.

Vom Pflanzblätz zum interkulturellen Garten
Gärten in der Stadt gibt es schon lange. Schrebergärten – der Inbegriff von Spiessigkeit -entstanden nach dem zweiten Weltkrieg vielerorts in Europa. Damals hatte fast jede Schweizer Familie ihren Pflanzblätz, um sich mit eigenem Gemüse zu versorgen. Noch heute gibt es in der Stadt St.Gallen 18 Familiengartenanlagen mit etwa 1100 Pächtern. Aber gibt es in St.Gallen auch die neuen urbanen Gärten? Liegt das Gärtnern auch hier im Trend? Fragt man den obersten St.Galler Familiengärtner Niklaus Lötscher, so ist in den St.Galler Familiengärten noch wenig von einem neuen Gartenboom zu spüren – im Gegenteil. In den letzten Jahren hatte man eher mit Nachwuchsproblemen zu kämpfen. Jüngst beobachtet Niklaus Lötscher zwar eine Trendwende, dass er von Anfragen junger Leuten überrannt würde, kann er jedoch nicht bestätigen: «Wir kämpfen gegen das hartnäckige Klischee vom Gartenzwergmenschen.» Diese Spezies ist denn auch in den St.Galler Familiengärten noch immer verbreitet. Jürg Tobler, der neue Präsident des Familiengartenvereins Espenmoos, spricht salopp von «Hardcore-Gärtnern», in deren fein säuberlich eingezäuntem Stück Paradies kein Unkräutchen die kleinbürgerliche Idylle stören dürfe. Aber auch in den Familiengärten ist die Zeit nicht stehen geblieben. Vielerorts sind sie parallel zur veränderten Zusammensetzung der Bevölkerung im Quartier in einem schleichenden Prozess zu interkulturellen Gärten geworden. Den Familiengarten St.Fiden könnte man auch als Little Balkania bezeichnen, von vierzehn Parzellen sind lediglich zwei an Schweizer verpachtet. Das Espenmoos hingegen ist beliebt bei Italienern, Spaniern und Portugiesen. Glaubt man Christa Müller, dann werden sich die Familiengärten in den nächsten Jahren weiter wandeln: «Auch in kleineren Städten verändern sich die Gartenkulturen. In den Kleingärten wachsen jüngere Generationen nach, die sich nicht mehr an all die Vorschriften halten und anders gärtnern wollen.» Als grössten Unterschied zwischen den traditionsreichen Familiengärten und den neuen urbanen Gärten bezeichnet Christa Müller, dass jene sich als genuine Bestandteile von Urbanität verstehen, nicht als Alternative zu ihr und erst zuletzt als Ort, an dem man sich von der Stadt erholen will.

Guerilla-Gärtner auf dem Land
Ein anderes Phänomen der «Urban Gardening» Bewegung sind die Guerilla-Gärtner, die kahle städtische Rabatten mit Wildblumen verschönern, ohne lange nach einer Bewilligung zu fragen. Guerilla-Gärtner finden sich bei uns nicht etwa in der Stadt, sondern auf dem Land, im properen Eggersriet. Es sind keine jungen Wilden, die sich da mit illegalen Pflanzaktionen hervortun, sondern gestandene Leute vom links-grünen Forum Eggersriet-Grub SG. Da der Wunsch der Gruppe, im Dorf eine Umweltschutzkommission zu gründen, beim Gemeinderat kein Gehör fand, bepflanzten die Forums-Leute Mitte Mai in einer friedlichen Protestaktion Verkehrsinseln mit Gemüsesetzlingen und einheimischen Blumen.

Aber zurück in die Stadt, wo man auf zwei neuartige und äusserst gegensätzliche Gartenprojekte stösst. Das eine wird an einem Ort betrieben, an dem es kaum jemand vermuten würde. Auf dem ehemals kargen Vordach des eleganten Hotels Radisson baut Jan Brosinsky, Küchenchef des hoteleigenen Restaurants olivé, 50 verschiedene Kräutersorten an. Mittlerweile hegt und pflegt er seine Pflänzchen nicht mehr nur für den Eigengebrauch: Für 20 Franken Jahresbeitrag kann man nämlich Mitglied werden im Kräutergarten Club und während der ganzen Saison nach Lust und Laune Kräuter beziehen, ohne sich die Hände schmutzig zu machen. Der andere Garten hingegen befindet sich im St.Galler Agglo-Niemandsland, direkt an der Fürstenlandstrasse. Neben der Aldi-Filiale hat vor drei Monaten eine Gruppe junger Autonomer ein überwuchertes Grundstück besetzt und begonnen, darauf einen Garten anzulegen. Der Besitzer lässt sie vorderhand gewähren, spätestens wenn die Bagger auffahren, ist es mit diesem städtischen Freiraum vorbei. An einem strahlenden Sonntagnachmittag sind dort zwei junge Frauen am Arbeiten, die zurückhaltend aber freundlich Auskunft über ihr Gartenprojekt geben. Durch ein Tor aus trockenen Brombeerranken tritt man ein in das autonome Gartenreich der «Aktion grüner Daumen».Eigentlich ist es schon ein Widerspruch in sich, dass Autonome das grüne Chaos bändigten und Ordnung herrichten, oder nicht? Dieser Garten scheint ein Ort zu sein, um überkommene Vorurteilezu prüfen. Eine der beiden Frauen erklärt, dass entlang der Hauptstrasse bald Sonnenblumen, Kapuzinerkresse, Kornblumen und Stangenbohnen blühen werden. Beete sind angelegt worden und die Salatköpfe wachsen prächtig. Wie die beiden jungen Frauen ausführen, geht es ihnen einerseits darum, den einstigen Schandfleck zu verschönern, gleichzeitig wollen sie aber auch lokales Biogemüse produzieren. «Die wenigsten von uns können sich das teure Biogemüse vom Markt leisten.» Unterstützung erhält man aus der Nachbarschaft. Bereits zweimal, erzählen sie, habe jemand Kistchen mit Setzlingen deponiert. «Autonom heisst für mich selbständig», meint die eine und die andere ergänzt: «Wir arbeiten hier ohne Hierarchien, niemand ist hier der Chef. Jeder kann soviel mitarbeiten, wie er will.» Das ist das Äusserste, was sich die beiden an politischen Statements entlocken lassen. Die Selbstbestimmung und das gemeinsame Arbeiten im Kreise Gleichgesinnter stehen für die Frauen im Vordergrund und beide haben ganz einfach Freude am Gärtnern. Während sie erzählen, ist die eine fast unablässig am Zupfen, die andere dünnt die als kunstvolle Spirale ausgesäten Zwiebelsetzlinge aus und pflanzt die Überzähligen hübsch in Reih und Glied. Auch in einem anarchistischen Garten muss man sich bücken und Unkraut jäten. Geplant ist, im Herbst gemeinsam zu ernten und zu kochen, was in den vergangenen Monaten gesät und herangezogen wurde.

Urbanes Gärtnern, so schreibt Christa Müller, sei in aller Regel soziales Gärtnern, es sei partizipativ und gemeinschaftsorientiert;  der Garten wird als Lern- und Begegnungsort inszeniert und die Nachbarschaft in die Gestaltung einbezogen. Die Soziologin ist davon überzeugt, dass sich das städtische Gärtnern in nicht allzu ferner Zukunft auch finanziell lohnen wird. «Sobald die Nahrungsmittel teurer werden, und damit ist über die Ölkrise in absehbarer Zeit zu rechnen, wird das Gärtnern auch ökonomisch interessant und insgesamt wieder ein breiteres Phänomen werden. Dies wird sich natürlich nicht als erstes in einer reichen Schweizer Kleinstadt wie St. Gallen bemerkbar machen, aber auf die Dauer wird die Entwicklung auch diese Stadt erreichen. Sie werden noch eine völlig andere Welt erleben, da bin ich mir ganz sicher.»

Erschienen im St. Galler Stadtmagazin sg9000 Nr. 2 / 2011