St.Galler Tagblatt

Bilder aus einer fernen Zeit

In der Galerie vor der Klostermauer zeigt die im Toggenburg lebende und aus Deutschland stammende Susanne Esser zum ersten Mal ihre Werke in St. Gallen.

Von Christina Genova

Auf der vergessenen Insel haben ein paar Jäger und Sammler überlebt. Nichts ahnend vom Segen und Fluch des elektronischen Zeitalters, führen sie noch heute ein archaisches Leben, dasselbe wie vor Jahrtausenden. Damals lebte auch das Urpferd. Golden schimmert sein Fell in der Nacht, majestätisch neigt es sein Haupt. Vor etwa dreissigtausend Jahren wurde es aus Elfenbein geschnitzt.

Vorbild für Susanne Essers Werk «Urpferd» war ein Fundstück aus einer Höhle in der Schwäbischen Alp, das man zu den ältesten Kunstwerken der Menschheit zählt. Für die «vergessene Insel» dienten der Künstlerin steinzeitliche Höhlenmalereien als Inspiration und teils als Vorlage. Die Bilder, die sie in der Galerie zeigt, erzählen zeitlose Geschichten aus einer fernen Zeit.

Verbindung zum Buch
Esser wurde 1962 in Südhessen geboren. Bevor sie vor drei Jahren der Liebe wegen ins Toggenburg zog, lebte sie im Südschwarzwald. Die studierte Kunstpädagogin und gelernte Buchbinderin führte dort ihr eigenes Atelier. Zwar arbeitet sie nicht mehr auf ihrem Beruf, die Verbindungslinien zum Handwerk sind aber nicht abgerissen. Sie werden von der Künstlerin weitergesponnen, indem sie die Materialien, die sie dazu benötigte, zu Collagen verarbeitet. Man findet darin Stoffe, die ihr zum Einbinden der Bücher dienten, die Gold- und Silberfarbe, mit der sie die Titel auf die Buchrücken prägte, das Marmorpapier aus dem Nachlass eines pensionierten Buchbinders, der damit einst die Buchdeckel verkleidete. Gelebtes und Erfahrenes bleibt präsent, die Gegenwart ist im Einklang und in Verbindung mit der Vergangenheit. Auch die «Buchstämme» der Künstlerin zeugen von dieser Haltung. Bücher, Ausschussware, hat die Künstlerin mit einer speziellen Schneidemaschine in feine Scheiben geschnitten und aneinandergeklebt. Wieder zieht die Künstlerin Verbindungslinien: Bücher und Bäume haben dieselbe Etymologie, Papier wird aus Holz hergestellt, ein Stammbaum führt einen in die Familienvergangenheit.

Warme Erd- und Holztöne
Lebenslinien, Wurzeln und Verbindungsfäden findet man in ihren Bildern viele. Die Stoffränder in den Collagen fransen aus. Tiere, Bäume und Menschen, die manche Werke bevölkern, bestehen aus wenigen Strichen. Andere Arbeiten sind mit feinen, symmetrisch angeordneten Linien überzogen, die sich häufig in Verästelungen teilen. Durch eine besondere Technik wirken sie wie aufgeplatzte Nähte oder Narben. Sie erinnern einen an Werke indigener Völker. Susanne Esser verwendet mit Vorliebe warme Erd- und Holztöne. Die Farben und Materialien trägt sie in mehreren Schichten auf, was bei manchen eine dreidimensionale Wirkung ergibt; «voir à travers», hindurchschauen, nennt sie diese Arbeiten.

Bis 15.11., Do/Fr 18–20, Sa 11–15, So 10–12 Uhr

Erschienen im St.Galler Tagblatt am 04.11.2009