St.Galler Tagblatt

Kondensierte Männlichkeit

In Katharinen zeigt der Olma-Gastkanton Waadt unter dem Titel «Woodstock» Videoarbeiten der vielversprechenden Künstlerin Anne-Julie Raccoursier.

Von Christina Genova

Längst haben wir uns daran gewöhnt, täglich eine Flut von Bildern aufzunehmen und zu verarbeiten. Man könnte deshalb zur Annahme gelangen, dass dies den Zugang zu Kunst in Form von bewegten Bildern erleichtert. Zumindest bei Anne-Julie Raccoursiers Videoarbeiten ist das Gegenteil der Fall. Unsere Augen, an schnelle Schnitte gewöhnt und daran, Bilder in rascher Folge zu konsumieren, müssen erst lernen, dem langsamen Rhythmus ihrer Bilder zu folgen.

Die Ausstellung «Woodstock» der jungen Lausanner Künstlerin (1974 geboren) im Katharinensaal gehört zum kulturellen Rahmenprogramm des Kantons Waadt, diesjähriger Olma-Gastkanton. Zu sehen sind drei Videoarbeiten, wovon die neuste, «Environmental», speziell auf diese Ausstellung hin entstanden ist. Anne-Julie Raccoursier, ein vielversprechender Stern am Schweizer Kunsthimmel, ist trotz ihres geringen Alters bereits mit mehreren wichtigen Preisen ausgezeichnet worden, unter anderem 2005 und 2008 durch die eidgenössische Kunstkommission.

Kondensate der Wirklichkeit
Raccoursier liebt es, den Betrachter aufs Glatteis zu führen. Ihre Arbeiten seien dann für sie stimmig – gab sie einmal zu Protokoll -, wenn das Publikum sich irreführen lasse und ihre vorgefundenen Realitäten für Collage oder künstlerische Manipulation halte. Beim Betrachten ihrer 2007 entstandenen Videoarbeit «Whirligig» stellt sich genau diese Frage: Inszeniert oder real? Man sieht ein gutes Dutzend Motorradfahrer in voller Montur und verfolgt halb irritiert, halb belustigt, wie sie sich zu immer neuen Choreographien formieren. Die Künstlerin kann sich aber den Aufwand für komplizierte Inszenierungen sparen, denn die Realität bietet ihr Stoff genug. Sie hat auf dem Video nichts anderes festgehalten als die persönliche Garde des französischen Staatspräsidenten beim täglichen Training.

Anne-Julie Raccoursier schöpft ihre Ideen aus dem Zeitgeschehen. Aufmerksam beobachtet sie die Welt, die sie umgibt, vieles hält sie mir der Kamera fest. Ihre Videoarbeiten sind Kondensate, das Resultat langer Recherchen. Eines ihrer zentralen Themen ist die Analyse und Dekonstruktion verschiedener Formen der Inszenierung. Darauf zielt auch der Ausstellungstitel «Woodstock» ab. Dieses legendäre Spektakel und Symbol einer ganzen Generation, hat vor vierzig Jahren statt gefunden und weckt unterschiedliche Assoziationen. Nimmt man es beim Wort, ist es nicht mehr als ein Holz (engl. wood)-stamm (engl. stock).

Die Titel ihrer Arbeiten sind der Waadtländerin wichtig: Sie seien Schlüssel zu deren Verständnis. «Whirligig» ist die amerikanische Bezeichnung für ein Windrad, welches mit der Windkraft über einen Mechanismus Figuren oder Objekte in Bewegung versetzt. Auch die präsidialen Motorradfahrer wirken wie Spielzeugfiguren, die von unsichtbarer Hand gelenkt sind. Sie dienen hauptsächlich der Repräsentation und Inszenierung von Macht. Wie die Whirligigs sind sie in diesem Sinne Dekorationsobjekte ohne weiteren Nutzen.

Spielende Männer
Um in Szene gesetzte Männlichkeit geht es auch in ihrer Videoarbeit «Noodling» (2006). Noodling heisst im amerikanischen Slang «herumhängen», es ist aber auch ein Fachwort aus dem Angelsport («Fischen mit der Hand»). Die Künstlerin zeigt auf dem gut siebenminütigen Video einen Zusammenschnitt der Darbietungen an der Luftgitarren-Weltmeisterschaft im finnischen Oulu. Ausschliesslich Männer verlangen ihrer imaginären Elektrogitarre das Äusserste ab. Ohne Ton und fast in Zeitlupe flimmern die Bilder über die Leinwand. Dadurch werden die grossen Gesten dieser Gitarren-Choreographien in ihrer Absurdität entlarvt, und man betrachtet die sich so seltsam gebärdenden Männchen mit einem distanzierten Blick. Eine Männerwelt demontiert die Künstlerin auch in ihrer neusten Arbeit «Environmental». Eine Gruppe von Managern in Hemd und Krawatte gebärdet sich in einer Turnhalle wie kleine Kinder. Sie wedeln mit ihren Krawatten und gehen dann dazu über, sich in Akrobatik zu üben. Bezüge zu unserer globalisierten Wirtschaftswelt sind beabsichtigt.

Das Spannende an Anne-Julie Raccoursiers Arbeiten sind die Assoziationen, die sie wecken. Im besten Falle bilden sie den Vorspann für den eigenen Film im Kopf.

Bis 18. Oktober, Ausstellungssaal Katharinen, St. Gallen, Di-So 14-17 und Do 14-20 Uhr

Erschienen im St. Galler Tagblatt am 01.10.2008