St.Galler Tagblatt

Besondere Kinder – besondere Eltern

Leben mit geistig behinderten Kindern. Was bedeutet es, ein Kind zu haben, das nicht der Norm entspricht – heute wie damals? Eltern berichten aus Anlass des Jubiläums des Heilpädagogischen Dienstes St. Gallen – Appenzell – Glarus.

Von Christina Genova

Widnau, an einem regnerischen Abend im Herbst. Um den Tisch sitzen zwei Elternpaare: ein jüngeres um die dreissig, Ronny und Susanne Solenthaler aus Heiden, und ein älteres Mitte fünfzig, die Gastgeber Stephan und Ruth Kägi. Es ist eine fröhliche Runde, und man versteht sich, obwohl man sich eben erst kennengelernt hat.

Down-Syndrom und CP
Was diese beiden unterschiedlichen Elternpaare verbindet, ist ihr besonderes Kind. Florian Kägi kam 1981 mit dem Down-Syndrom zur Welt, Damian Solenthaler 2003 mit einer leichten Form von CP (Cerebralparese), die ihn in seiner Motorik, der Wahrnehmung und der Sprache einschränkt. Sie sind zusammengekommen, um sich über ihre Erfahrungen auszutauschen.

Was bedeutet es heute, mit einem Kind zu leben, das nicht der Norm entspricht, was bedeutete es damals? Was hat sich verändert, was nicht? Den Anlass für das Gespräch bildet ein Jubiläum: Der Heilpädagogische Dienst St. Gallen – Appenzell – Glarus feiert dieses Jahr seinen vierzigsten Geburtstag. 1968 wurde der Heilpädagogische Dienst als eine der ersten Frühförderungsinstitutionen der Schweiz gründet.

Keine spezialisierten Angebote
Einer der Gründerväter, Dr. Ernst Bauer, Schulpsychologe und selbst Vater eines Kindes mit Down-Syndrom, hatte die Gunst der Stunde erkannt. Die Eltern von behinderten Kindern sollten mit ihren Fragen und Sorgen endlich nicht mehr alleine dastehen, denn damals gab es für behinderte Säuglinge und Kleinkinder keinerlei spezialisierte Erziehungs- und Förderangebote. Im selben Jahr hatte die IV die Grundlagen für die Finanzierung von Massnahmen für behinderte Kinder im Vorschulalter geschaffen.

Anspruch auf Früherziehung
Als 1981 das erste Kind der Familie Kägi, Florian, zu Welt kam, konnte sie bereits von dreizehn Jahren Aufbauarbeit profitieren. Schon im Spital hat der Kinderarzt die Eltern auf den Anspruch ihres Kindes auf Früherziehung hingewiesen. Als Florian drei Monate alt war, kam zum erstenmal die Früherzieherin zu ihnen nach Hause. Auch Damian Solenthaler erhält, seit er anderthalb Jahre alt ist, einmal wöchentlich heilpädagogische Früherziehung. Beide Familien erlebten beziehungsweise erleben die Begleitung durch die Früherzieherin als sehr positiv. Sie sind sich einig, dass sie als Eltern davon mindestens genauso profitierten wie ihre Kinder. «Die Früherzieherin ist die Stabsstelle, bei der alle Fäden zusammenlaufen. Von allen Therapeuten möchten wir sie am wenigsten missen», sagen Ronny und Susanne Solenthaler.

Zwiespältige Erfahrungen
Wie sagt man Eltern, dass ihr Kind sich anders entwickeln wird als andere Kinder? Es scheint den Ärzten heute noch genauso schwer zu fallen wie damals vor 25 Jahren. Entsprechend zwiespältig sind auch die Erfahrungen. Die Kinderärztin empfahl den nichtsahnenden Eltern von Damian Solenthaler schon bei der Dreimonatskontrolle einen Hirn-Ultraschall, Physiotherapie und eine Untersuchung beim Augenarzt. Die Eltern fühlten sich überrumpelt und empfanden das Vorgehen der Ärztin als wenig einfühlsam. Sie wechselten zu einem anderen Kinderarzt.

Auch die Schonfrist der Kägis dauerte nicht lange. Nach der Geburt bat der Frauenarzt Stephan Kägi aus dem Zimmer und eröffnete ihm, dass bei Florian gewisse mongoloide Züge feststellbar seien. «Wir werden ihrer Frau vorläufig nichts davon sagen.» Das Kindlein wurde dann von der Hebamme ins Zimmer gebracht und Ruth Kägi auf den Bauch gelegt. Sie schaute es an und für sie war es sonnenklar: «Das Chind isch nöd gsund, das isch es Möngi.» Die Freude über die Geburt ihres Kindes überwog. Der Frauenarzt liess sich nicht mehr blicken, zwölf lange Stunden waren die Kägis allein, bis am Abend der Kinderarzt vorbeikam.

Die Kägis waren mit dem kleinen Florian noch nicht lange zu Hause, da läutete es an der Türe. Eine Frau stand draussen, und hinten auf ihrem Velo sass ein allerliebstes Mädchen mit Down-Syndrom. Sie lud sie ein, an den Elterntreffen in der Region teilzunehmen. Der Kinderarzt, der selbst im Vorstand der Gruppe mitwirkte, hatte die Frau geschickt. Die Solenthalers besuchen zwar seit kurzem eine Elterngruppe in Heiden, aber sie wären froh gewesen, wenn schon früher die Möglichkeit bestanden hätte, sich mit anderen Betroffenen auszutauschen.

Notwendiger Einsatz
Was im Gespräch mit den beiden Paaren auffällt, ist, wie selbstverständlich und wie notwendig es Anfang der 80er-Jahre war, sich zu engagieren. Ruth Kägi war während mehrerer Jahre Vorstandsmitglied in der Elterngruppe, Stephan Kägi übernahm dieselbe Funktion beim Heilpädagogischen Dienst. Sie machten die Erfahrung, dass sich der vereinte Einsatz lohnte. Die Elterngruppe setzte sich unter anderem erfolgreich für den Bau des Union in Altstätten ein, einer Wohn- und Arbeitsstätte für Behinderte. Florian profitierte vom Engagement der Eltern, denn seit fünf Jahren lebt und arbeitet er dort.

Wo ist die beste Förderung?
Heute sind junge Eltern mit neuen Herausforderungen konfrontiert. Zurzeit beschäftigt sich die Familie Solenthaler intensiv mit dem Thema Integration. Im Kanton Appenzell Ausserrhoden, wo sie wohnen, ist die integrative Sonderschulung schon sehr weit fortgeschritten. Grundsätzlich stehen die beiden einer Integration ihres Sohnes in die Regelschule positiv gegenüber, aber Damian soll dort eingeschult werden, wo er am besten gefördert werden kann, und nicht dort, wo die tiefsten Kosten entstehen.

Florian Kägi ist mittlerweile ein junger Mann, seine Eltern sind sehr stolz auf ihn. Käme heute eine gute Fee vorbei, um ihrem Sohn seine Behinderung wegzuzaubern, Kägis würden sie fortschicken. Auch für die Familie Solenthaler stimmt ihr Sohn Damian, so wie er ist. Die Ungewissheit, ob Damian sich dereinst in unserer Leistungsgesellschaft wird behaupten können, erfüllt die Eltern mit Sorge. Das Zusammenleben mit ihrem Kind hat sowohl die Solenthalers als auch die Kägis viel gelehrt. Der Begriff «Behinderung» hat sich für sie gedehnt. Wer legt denn die Norm fest, wo verläuft die Grenze? Sie erwarten nicht zu viel von ihren Kindern, um sich dann über ihre kleinen und grossen Erfolge umso mehr zu freuen.

Erschienen im St. Galler Tagblatt am 07.10.2009