St.Galler Tagblatt

Vom Zwang, komplett zu sein

Premiere des Stücks «Prothese» der Compagnie Buffpapier in der Grabenhalle
St. Gallen. Mit Schauspiel, Tanz, Akrobatik, Objekttheater und Musik werden in 18 abwechslungsreichen Szenen gesellschaftliche und körperliche Krücken und Prothesen thematisiert.

Bereits im Eingangsbereich der Grabenhalle sind sie unübersehbar:
ein Regal, gefüllt mit unterschiedlichsten Prothesen. Auf dem Weg in
den Saal empfängt einen eine Gummipuppe aus dem Sexshop an Krücken. Die
Compagnie Buffpapier nähert sich unter der Regie von Stéphane Fratini
und mit Beteiligung von behinderten Laiendarstellern dem weit gefassten
Begriff der Prothese. Der Soundtrack, den der St. Galler Bit-Tuner
liefert, wird von einer dreiköpfigen Band ergänzt.

Eine Prothese ist Ersatz, nicht nur für ein fehlendes Körperteil,
sondern auch für andere, auf den ersten Blick nicht ersichtliche Mängel
und Defizite. Zentral ist die Frage nach der Norm. Welche Prothese muss
man sich in unserer Gesellschaft verpassen (lassen), um als komplett zu
gelten – oder sich zumindest so zu fühlen?

Elektronische Krücken
Der Vielfalt der Prothesen, die einem dazu verhelfen sollen, sind
kaum Grenzen gesetzt. In 18 Szenen werden einige schonungslos, und
gewürzt mit einer kräftigen Prise Gesellschaftskritik vorgeführt. Eine
Szene deckt die Unfähigkeit zur Kommunikation auf – trotz modernster
Kommunikationsmittel: Zwei Männer sind so gefangen von Mobiltelefon und
Computer, dass zwischen ihnen kein Gespräch zustande kommt. Nur kurz
blicken sie von ihren elektronischen Krücken auf und starren einem
weiblichen Wesen nach. Es könnte einer dieser, von männlichen Fantasien
bevölkerten elektronischen Parallelwelten entsprungen sein: Mit
knappster Bekleidung und überdimensionalen Silikonbrüsten stöckelt es
auf hohen Absätzen vorbei. Gleich darauf treten behinderte
Laiendarstellerinnen im Rollstuhl und mit Gehwägelchen auf. Braucht es
ihre Präsenz, um dem Thema gerecht zu werden? Obwohl es dem Regisseur
um ihre Sache geht, werden sie in gewisser Weise vorgeführt. Es ist in
jedem Falle eine Gratwanderung.

Was unterscheidet Nichtbehinderte von den so genannt Behinderten?
Das Stück wirkt in dieser Hinsicht entlarvend, denn die Prothesen sind
es gewiss nicht. Eindrücklich wird einem die Absurdität, sich
freiwillig Prothesen zuzulegen und sich dafür sogar unters Messer zu
legen, aus der Perspektive von Behinderten vor Augen geführt.

Die Puppe im Regen
Trotz des alles andere als einfachen Themas mangelt es nicht an
poetischen, aber auch skurrilen Szenen. Es gibt einen Pas de deux mit
Rollstuhl und Prothesen, die sich selbständig machen und
davonschwimmen. Die Fragilität und Abhängigkeit von Behinderten wird
gleich zu Beginn des Stücks angesprochen. Eine von zwei
Schauspielerinnen geführte Seidenpapierpuppe im Rollstuhl beobachtet
erstaunt die Verrenkungen eines hyperaktiven Sportlers. Im weiteren
Verlauf der Szene gerät die Papierpuppe in den Regen, dem sie schutzlos
ausgeliefert ist – sie fällt in sich zusammen und wird penibel
entsorgt. Nichts soll von ihr übrig bleiben, denn was nicht der Norm
entspricht, möchte man gerne loswerden, zumindest verdrängen. Eine der
letzten Szenen wirft ein Schlaglicht auf die unheilige Allianz zwischen
Medizin und Naziregime, wunderbar dargestellt im Tango einer
Krankenschwester mit einem Soldaten.

«Prothese» ist ein stimmiges, sehenswertes Stück, das Denkanstösse
liefert, obwohl der Zeigefinger manchmal etwas penetrant ausfällt.
Getragen wird es durch die starke Leistung und Präsenz der
Schauspieler. Man verliert sich nicht in Requisiten und setzt auf
Reduktion, auch beim Text.

Erschienen im St. Galler Tagblatt am 20.10.2006