Ruth Merz-Kälin zeigt ihre Bildteppiche im Treppenhaus des Textilmuseums
St. Gallen. Die Farbenpracht sticht bei den Bildteppichen als Erstes ins Auge. Eine Auswahl der Werke von Ruth Merz-Kälin ist nun im Textilmuseum zu sehen.
Unbekümmert und ohne Rücksicht auf die Farbenlehre mischt Ruth Merz-Kälin die Farben wild durcheinander. Die zum Teil ungewöhnlichen Farbkombinationen sind für die Künstlerin Ausdruck der Dissonanzen, die Teil des Lebens seien. Ungewöhnlich sind auch die Titel, die sie für ihre Werke wählt.
Vielleicht sollte man besser sagen, überraschend. Von einer älteren Dame, deren Leidenschaft seit dreissig Jahren dem Sticken gilt, würde man nicht erwarten, dass sie die Früchte ihrer Arbeit mit «Kernenergie», «Dargebotene Hand» oder «Gedopt» betitelt. Sticken und Aktualität, das scheint irgendwie nicht zusammenzupassen. Doch die 72-jährige Künstlerin belehrt einen eines Besseren. Sie ist ein wacher, vielseitig interessierter Mensch und setzt sich in ihren Bildteppichen mit der bunten Vielfalt des Lebens auseinander. Politik interessiert sie ebenso wie spirituelle Fragen.
Zeitintensive Kunst
Den Titel eines Bildteppichs legt sie jeweils fest, bevor sie die Nadel überhaupt zur Hand nimmt. Er bildet den Ausgangs- und Bezugspunkt der künstlerischen Auseinandersetzung. Die damit verbundenen Assoziationen lässt sie intuitiv in ihr Sticken einfliessen. Zahlreiche bunte Einzelflächen vereinen sich dabei zu überwiegend abstrakten Bildkompositionen. Hat Ruth Merz-Kälin erst einmal eine neue Stickarbeit begonnen, arbeitet sie fieberhaft daran und kann es kaum erwarten, das Angefangene zu Ende zu bringen. Dabei können für einen grösseren Bildteppich leicht bis zu 500 Stunden zusammenkommen.
Wohin mit 130 Werken?
Die im Kanton Schwyz aufgewachsene, und heute in Wädenswil wohnhafte Künstlerin hat, bedingt durch die berufliche Beschäftigung ihres Mannes, mehrere Jahre im Ausland gelebt. Dabei kam sie mit Kunst verschiedener Kulturen in Kontakt, die eine weitere Inspirationsquelle für ihre Stickkunst darstellen. Ihr Lebenswerk, 130 Bildteppiche, die sie in jahrzehntelanger Arbeit geschaffen hat, findet in einem einzigen Zimmer Platz. Das grösste Anliegen der gesundheitlich angeschlagenen Künstlerin ist, für ihre Werke eine endgültige Bleibe zu finden. Man spürt, dass die Bildteppiche für Ruth Merz-Kälin ein bisschen wie ihre Kinder sind.
Bis 6. August
Erschienen im St. Galler Tagblatt am 26.06.2006