St.Galler Tagblatt

Den Menschen durchschauen

Fotografien von Michèle Mettler in der Galerie vor der Klostermauer
St. Gallen. Zum ersten Mal zeigt die Fotografin Michèle Mettler Arbeiten in ihrer Heimatstadt. Zu sehen sind neue und ältere Fotografien, in denen Menschen mit ihren Zwängen und Veränderungen im Zentrum stehen.

Was hält den Menschen im Innersten zusammen? Welche Entdeckungen lassen sich unter der Oberfläche machen? Antworten auf diese und andere Fragen sucht Michèle Mettler durch fotografische Annäherungen an den menschlichen Körper. In ihrer Ausstellung «Zweite Haut» in der Galerie vor der Klostermauer steht der Mensch im Mittelpunkt. Um Inneres nach aussen zu kehren und Unsichtbares sichtbar zu machen, wählt sie die Technik der Überblendung. Sie verwendet dafür ausschliesslich analoge Fotografie und überlässt dabei nichts dem Zufall: Alle ihre Fotografien sind sorgfältige Inszenierungen.

Fokus auf Körperteile
Da sie schon immer gerne gezeichnet hat, arbeitet die ausgebildete Fotografin häufig mit eigenen Zeichnungen. Verwendung finden sie als Bildelement oder auch als Hintergrund ihrer Inszenierungen. Jede Fotografie legt den Fokus auf ein bestimmtes Körperteil oder Organ. In einer ganzen Serie von Aufnahmen hat sich die Künstlerin mit Kopf, Gehirn und Schädel auseinander gesetzt. Einen kahl rasierten Männerschädel überzog sie mit einem Netz aus schwarzen Linien, die wirken, als hätte man sie für eine bevorstehende Operation eingezeichnet. Auf einem anderen wiederum zeichnete sie die Kopfarterie ein. Auch der Rücken und die Wirbelsäule sind Gegenstand ihrer eigenwilligen Fotografien. Auf einer weiblichen Rückenansicht zeichnet ein Stahlseil den Verlauf der Wirbelsäule nach.

Leises «Memento mori»
Die Künstlerin zeigt den Menschen in seiner Verletzlichkeit, in Auseinandersetzung mit dem medizinisch Machbaren und Wünschbaren. Es sind keine einfachen Themen, derer sich Michèle Mettler angenommen hat, und dementsprechend schwierig ist es, einen Zugang zu den oft düster wirkenden Fotografien zu finden. Über der Ausstellung schwebt ein leises «Memento mori». Die Fotografin setzt ihre oft irritierenden bis skurrilen Ideen konsequent um. Einen entblössten weiblichen Bauch überblendet sie mit der Fotografie eines Poulets, aneinander gelegte Salamischeiben zeichnen den Verlauf der Speiseröhre nach. Im Idealfall verschmelzen die Bilder und entfalten eine eindringliche, berührende Wirkung, eine eigene Poesie. Nicht immer aber gelingt diese Verbindung, und die Überblendungen wirken dann aufgesetzt. Eine der stärksten Arbeiten zeigt die schwarzweisse Aufnahme eines älteren Mannes mit entblösstem Oberkörper, auf dessen Bauch sich die Gedärme wie eine Tätowierung abzeichnen.

Bis 2. Juli; Apéro mit der Künstlerin morgen Do, 18-20 Uhr; So 2.7., 10-12 Uhr; www.klostermauer.ch

Erschienen im St. Galler Tagblatt am 14.06.2006