Treppenhaus-Ausstellung von Gret Mengelt im Textilmuseum St. Gallen
St. Gallen. Stickerei, die nichts mit «Chrüzlistich» gemein hat, sondern vital und kraftvoll die kreativen Möglichkeiten dieser alten Textilkunst nutzt: Die Werke von Gret Mengelt im Textilmuseum sind beeindruckend.
Fällt das Stichwort «Sticken», löst dies wohl bei den meisten Frauen, aber auch Männern der jüngeren Generation, zwiespältige Gefühle aus: Erinnerungen an den Handarbeitsunterricht der Primarschulzeit kommen auf, als man mit verschwitzten Händen mühsam versuchte, Nadel und Faden zu bändigen, um damit das obligate Nadelkissen zu besticken. Mit Leiden haben die Stickkunstwerke von Gret Mengelt jedoch nichts zu tun, dafür umso mehr mit Leidenschaft. Die Künstlerin mit Jahrgang 1941 bestickt seit einem Vierteljahrhundert lustvoll Leinen- und Baumwollstoffe. Ihre «Texturen» stellt sie nun im Treppenhaus des Textilmuseums aus.
Hartnäckige Vorurteile
Ihre Werke eignen sich in idealer Weise dazu, vorgefasste Meinungen zum uralten «Frauenhandwerk» des Stickens zu revidieren. Wie hartnäckig die Vorurteile sind, zeigt, dass die Künstlerin ihre gestickten Malereien ziemlich nüchtern als «Texturen» bezeichnet. Keinesfalls will sie mit röhrenden Hirschen und «Chrüzlistich» in Verbindung gebracht werden. Dazu besteht auch überhaupt kein Anlass. Ihr virtuoser Umgang mit Nadel und Faden raubt einem fast den Atem und straft jeden Skeptiker Lügen. Die mittlerweile pensionierte Grafikerin hat die Stickkunst perfektioniert und zu einer ganz eigenen künstlerischen Handschrift gefunden. Allein schon das Format ihrer «Gemälde» besticht. Keines ihrer Werke misst weniger als einen halben Meter in der Breite und in der Länge. Kraftvoll und vital breiten sich die handgestickten Muster und Formen über den ihnen grosszügig bemessenen Raum aus und würden ohne die Begrenzung des Rahmens wohl noch darüber hinauswachsen. Sie schätzt am Sticken ebendiese Freiheit, sich in alle Richtungen ungehindert entfalten zu können.
Abstrakt und verdichtet
Gret Mengelt fertigt kaum Skizzen an, bevor sie sich an ein Werk wagt und nur selten trennt sie einmal Gesticktes wieder auf. Alles wächst organisch aus dem Moment heraus und deshalb erstaunt es nicht, dass die Künstlerin als unerschöpflichen Fundus und Inspirationsquelle für ihre Arbeit die Natur mit ihrem Reichtum an Formen und Strukturen nennt. Wer aber farbenprächtige Blumenstickereien erwartet, wird überrascht: Gret Mengelt beherrscht die Kunst der Abstraktion und der Verdichtung. Farbige Garne setzt sie nur selten und sehr gezielt ein.
Trotz dieser Reduktion gelingt es ihr, die Natur in ihrer Vielfalt abzubilden. Sie nimmt in ihren Stickereien die heitere Stimmung einer sommerlichen Magerwiese ebenso auf wie den fast gewalttätigen Ausdruck wild wuchernder mediterraner Macchia. Dabei sind die bestickten Flächen den unbestickten ebenbürtig. Wichtig ist die Stoffgrundlage: Stickt die Künstlerin mit weissem Garn auf weissen Baumwollstoff, erzielt sie damit andere Effekte als auf ungebleichtem Leinen.
Bis 5. Juni, Textilmuseum St. Gallen, geöffnet Mo-Sa 10-12/14-17 Uhr; jeden 1. Mittwoch im Monat 10-17; So 10-17 Uhr
Erschienen im St. Galler Tagblatt am 10.04.2006